2011 - Annus horribilis: Studiengang Information und Dokumentation in Potsdam wird abgeschafft

2011 scheint ein Annus horribilis nicht nur für Despoten, sondern auch für den Informationswissenschaftlichen Sektor zu sein. Dr. Luzian Weisel, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Informationswissenschaft und Informationspraxis (DGI) e.V. erwähnte mir gegenüber heute in einem Telefonat, dass es zur Schließung der Ulmer Schule für Medizinische Dokumentation nun bald auch ein Pendant auf akademischem Niveau gebe. Der Studiengang "Information und Dokumentation" an der Fachhochschule Potsdam läuft zum Wintersemster 2012/2013 aus. Schlechte Aussichten also für die ganze Dokumentationsbranche, "orthodox" wie medizinisch?

Die DGI hat heute reagiert und eine offizielle Verlautbarung per Newsletter und XING veröffentlicht, aus der ich im Folgenden zitiere:

"Der Studiengang „Information und Dokumentation“ an der Potsdamer Fachhochschule soll zum Wintersemester 2012/13 auslaufen" - so meldete es die Märkische Allgemeine am 10. Mai, gefolgt von (mindestens) einer bitteren Stellungnahme des daraufhin zurückgetretenen Dekans des zuständigen Fachbereiches (Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm; U.W.). Ich habe mir als Präsident der DGI in verschiedenen Einzelgesprächen mit an der Entscheidung Beteiligten ein Bild dieses Vorgangs zu machen versucht, betrifft er doch die angestammte Kernsubstanz dessen, wofür unsere Gesellschaft steht: die Dokumentationswissenschaft unabhängig von ihrem konkreten Niederschlag in der institutionellen Praxis von Bibliotheken und Archiven – denn genau diese beiden institutionell geprägten Studiengänge verbleiben nun allein in Potsdam. Ich habe heute meine Eindrücke mit dem Vorstand der DGI abgestimmt - und wenn sich unsere daraus ergebende Reaktion nicht in reflexhaftem Protestgeschrei erschöpft, so hat dies seinen Grund darin, dass eine Bewertung des Vorgangs aus unserer Sicht nur so komplex und ambivalent ausfallen kann wie die Materie selbst.

Da ist zum einen die Tatsache, dass es zu dieser Entscheidung ohne entsprechende Sparvorgaben von Seiten der Hochschulleitung und der Landespolitik wohl nicht gekommen wäre: hier ist offenbar im Fachbereich eine durchaus vertretbare Überlegung angestellt worden, derzufolge anstelle einer gleichmäßigen Umsetzung solcher Vorgaben quasi mit dem Rasenmäher über alle drei Studiengänge (mit dem Risiko, sie sämtlich in einen kritischen Zustand zu versetzen) das Opfer eines der drei Studiengänge als das kleinere Übel schien.


Warum dann aber fiel der Studiengang "Information und Dokumentation" dieser Überlegung zum Opfer und nicht einer der beiden institutionell geprägten Studiengänge für Bibliothekare oder Archivare?
(Hervorhebung durch mich, U.W.) Hier wird der Vorgang wirklich komplex und in seinen Konsequenzen bedenkenswert. Denn offensichtlich war zum Einen im Fachbereich der Eindruck vorherrschend, der nun abzuwickelnde Studiengang sei weniger gut auf aktuelle und Zukunftsthemen eingestellt als die anderen beiden - und auch die Anstrengungen des Kollegen Hobohm, eine neue, vorwärts gewandte Informationswissenschaft zu propagieren und zu praktizieren haben dem gegenüber offensichtlich nicht ausgereicht. Zum anderen aber - und dies vor allem ist bedenklich! - bekundet der neue Dekan des Fachbereichs, Günther Neher, die Chancen der Dokumentations-Absolventen am Arbeitsmarkt seien schlechter als diejenigen der Absolventen der anderen beiden Studiengänge. (Hervorhebung durch mich, U.W.) Dem wiederspricht Eleonore Poetzsch, die in dem betroffenen Studiengang lehrt, so dass in gewisser Hinsicht Aussage gegen Aussage steht. Doch auch ohne die entsprechenden Verbleibszahlen aus Potsdam überprüfen zu können stimmt bedenklich, dass uns heute im DGI-Vorstend spontan Beispiele von Stellen mit klar dokumentarischem Profil genannt wurden, die in jüngster Zeit - trotz vorliegender einschlägiger Bewerbungen! - mit nicht-dokumentarischen Fachwissenschaftlern besetzt wurden.

Dies mag beklagenswert sein - doch müssen wir als Realität akzeptieren, dass Kernbestandteile des Berufsprofils 'Dokumentation' in der öffentlichen Wahrnehmung schlicht nicht mehr existieren und wohl auch nicht so ohne weiteres wiederzubeleben sein werden.
(Hervorhebung durch mich, U.W.) Diese Einsicht verleiht dem Potsdamer Vorgang eine zwar brutale, jedoch letztlich nachvollziehbae Logik: eine eigenständige Neu-Begründung der Dokumentationswissenschaft wird wohl eine Chimäre bleiben. Aussichtsreich ist sie nur als Teil eines neuen Forschungsparadigmas, als Teil der sich gerade formierenden Web-Science. (Hervorhebung durch mich, U.W.) Genau dieser Entwicklung trägt die jüngste Diskussionsrunde der Gruppe RTP Doc in Frankreich unter dem Arbeitstitel 'Le Web sous Tension' Rechnung, in welcher der Prozess der 'Redocumentarisation du Monde' in die Welt des Web der Linked Open Data fortgeschrieben wird.

In diesem Sinne ist die in Potsdam getroffene Entscheidung für mich letztlich nachvollziehbar und zugleich erneuter Anlass zum Nachdenken über das Profil der 'Information Professionals' und der DGI. Meines Erachtens ist die Entwicklung der Dinge in Potsdam genau dann keine Katastrophe, wenn es im Sinne des Arbeitsprogramms von RTP Doc gelingt, traditionelle dokumentarische Erschließungsintrumenten (Thesauri, Klassifikationen, Ontologien) und zielgruppenspezifische Kontextualisierungsansätze mithilfe von SKOS und Methoden der semantischer Verlinkung und der Linked (open) Data neu zu positionieren und dafür zu sorgen, dass diese in den beiden verbleibenden Studiengängen ihren unverrückbaren und selbstverständlichen Platz erhalten. 

Intendiert ist damit also nicht etwa Defaitismus sondern weit eher die Vermeidung kraftraubender und letztlich nutzloser Rückzugsgefechte, denn dies eröffnet zugleich die Möglichkeit, unsere angestammten Kernkompetenzen auch im neuen Umfeld des Web sichtbar und nutzbar zu machen!

Prof. Dr. Stefan Gradmann

Präsident der DGI" 

Den Schlussfolgerungen Gradmanns ist m. E. zuzustimmen, die Neupositionierung ist anzugehen, denn sie ist überfällig. Da dies meiner Überzeugung nach auch und gerade für den Bereich Medizinisches Informationsmanagement gilt, sollten die großen Verbände im ABD-Sektor einmal darüber nachdenken, ob es sich nicht lohnte, die Neupositionierung wenn nicht gemeinsam, so doch in Tuchfühlung anzugehen. 

Reinvent information science.
Reengineer medical information management.

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