Wie Social Media die Gesundheitswirtschaft revolutionieren
Was sich derzeit in der europäischen Gesundheitswirtschaft ereignet, ist revolutionär. Doch kaum einer bekommt mit, dass eine innovative und hochvernetzte Gemeinschaft von Visionären, Idealisten und Unternehmern Soziale Netzwerke dazu benutzen, die Gesundheitswirtschaft fundamental umzugestalten. Wie hat sich der europäische Health-Care-Sektor unter den Bedingungen von Web 2.0, des Mitmach-Webs also, bereits gewandelt und wie wird er sich durch Social Media zukünftig weiter umgestalten?
Facebook, iPhone & Co. - Social Media jenseits des Hypes
Facebook überschritt im Februar 2010 die 400-Millionen-User-Grenze. Damit avanciert die Social Media-Plattform nach China und Indien zum drittgrößten „Land“. In den ersten neun Monaten nach Einführung von Apples iPhone wurden eine Milliarde Anwendungen genutzt, die so genannten Applikationen oder kurz Apps. Diese zwei Befunde genügen um zu zeigen, welche Bedeutung Soziale Netzwerke erlangt haben. Sie sind ein fester Bestandteil der alltäglichen Kommunikation „normaler“, d.h. nicht-technikversierter Internetnutzer. Praktisch jedermann kann global, digital, mobil und in Echtzeit kommunizieren. Zudem haben Social Media die Recherche nach Informationen grundlegend verändert, und zukünftig werden sie das dominierende Medium für Informationssuchende sein.
Das Phänomen ist branchenübergreifend und längst schon sind Digitalwirtschaft und Gesundheitswirtschaft miteinander verschmolzen. Wie wird sich Health 2.0, wie das Ergebnis dieser Verschmelzung kurz genannt wird, auf die Zukunft des Gesundheitswesens auswirken? Welches Entwicklungspotenzial birgt Health 2.0 und vor allem: welche Chancen ergeben sich für die beteiligten Akteure?
Health 2.0 vs. eHealth
Eines vorweg: Health 2.0 und eHealth sind zwei paar Schuhe. Eine Vielzahl von (tele)medizinischen Applikationen, Diensten und Produkten zeugt von der Verschmelzung von Informations- und Kommunikationstechnologie mit Medizin, etwa Monitoringsysteme oder virtuelle Welten, in denen schon heute erfolgreich Patienten mit Phobien behandelt werden. Bezieht sich eHealth also stärker auf Technik, fokussiert Health 2.0 auf Kommunikation und soziale Interaktion zum Zwecke der Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Es sind vor allem Patienten wie du und ich, die sich Zugang zu Gesundheitsinformationen und Wissen verschaffen und dazu Web 2.0-Anwendungen nutzen, wodurch nach und nach neue Services wie Patientennetzwerke entstanden sind. Ob sich das automatisch positiv auf die Qualität medizinischer Versorgung auswirkt, sei dahingestellt. Unbestritten führt die Möglichkeit, sich im Internet schlau zu machen, zumindest zu einer Zunahme der Patientensouveränität. Dass dies durchaus auch mit Argwohn betrachtet wird, dürfte klar sein. Denn schließlich beeinflusst dies nachhaltig das Verhältnis vom Patienten zu Ärzten, Krankenversicherung oder der Pharmaindustrie, was sich auf Kommunikation, Therapie und Versorgung im Gesundheitssektor auswirkt.
Es hat sich ausgegoogelt: vertikale Suche in Sozialen Netzwerken
Die horizontale Suche nach klassischem Content ist von der Identifizierung digitaler Kommunikation und Diskussion überholt worden. Schwere Zeiten für Suchmaschinen wie Google, denn zukünftig müssen sie nicht nur Informationen zu einer Krankheit, deren Behandlung und dem Behandler usw. finden können, sondern darüber, was die Community über eine Krankheit, deren Behandlung und vor allem den medizinischen Dienstleister selbst hält.
Ein idealtypischer Vertreter vertikaler Portalsuche ist Orpha.net. Dessen Ziel ist die Verbesserung der Diagnose und Behandlung seltener Krankheiten. Das Angebot ist expertengeneriert und wendet sich gleichermaßen an Non-Professionals wie Patienten und deren Angehörige sowie an Fachleute. Neben einer Online-Enzyklopädie werden Informationen zu Leistungsangeboten wie Spezialambulanzen, Diagnostiklabors, aktuelle Forschungsprojekte und Selbsthilfegruppen vorgehalten.
Der „empowered patient“ – eine neue Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt
Das Herzstück der digitalen Kommunikationskultur sind die Patientennetzwerke. Dafür gibt es mehrere Gründe, denn
* Gesundheit, Krankheit und Wellness gewinnen unter den Bedingungen der demographischen Entwicklung hin zu einer alternden Gesellschaft deutlich an Bedeutung,
* Patienten kümmern sich aktiv um ihre Gesundheit,
* benutzen dazu das Internet zum Austausch untereinander über Symptome, Therapien, Medikationen, Alternativen, Leistungserbringer oder
* um auf verschiedenen Kanälen mit Fachpersonen und Selbsthilfegruppen in Kontakt zu treten.
Entsprechend existieren eine Vielzahl von Unterarten und Kommunikationsmöglichkeiten:
* einzelne Aktivisten stellen Content bereit, z.B. in Form von Blogs
* Patienten vernetzen sich und kommunizieren untereinander in so genannten Patient Communities
* tauschen anonym ihre Gesundheitsdaten aus, wodurch sie krankheitsbezogene Wissensdatenbanken generieren (was bis zum quasi community-monitorierten Selbstexperiment gehen können)
* kommunizieren mit Ärzten
* Ärzte kommunizieren untereinander in fachunspezifischen bzw. interdisziplinären oder einer Fachdisziplin verpflichteten Foren
* allgemeine Gesundheitsportale übergreifend und
* themenspezifisch
Es ist erstaunlich, dass Patienten bereit sind, ihr Wissen respektive Wissen über sich selbst zu teilen. Das ist im klassischen Wissensmanagement oftmals schwierig, funktioniert hier aber wie von selbst. Natürlich ist es kein Lehrbuchwissen, was in virtuellen Selbsthilfegruppen generiert wird. Dennoch ist es evidenzbasiert, weil es auf Erfahrungen von Patienten mit Medikamenten oder Therapien beruht. Und solches Wissen ist wirkmächtig, weil es immer stärker die Selbstdiagnose, Arztwahl, Präferenzen für eine Medikation oder Therapie beeinflusst. Denn auch im 21. Jahrhundert ist Wissen nach wie vor Macht. Es heißt jetzt nur anders, nämlich Empowerment. Mit dem „empowered patient“ entsteht also letztlich eine neue Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt.
Ärzte – vom autoritären Alleswisser zum medizinischen Berater
Sahen sich Ärzte ursprünglich in der zwiespältigen Rolle derjenigen, die im Web 2.0 von ihren Patienten evaluiert werden, evaluieren sie sich mittlerweile gegenseitig. Social Media ermöglicht Ärzten neben dem Update ihres eigenen Wissens den fachlichen Austausch, um z.B. eine Zweitmeinung einzuholen. Ermöglicht, oder sollte es besser ermutigt oder gar zwingt heißen? Wahrscheinlich von allem ein wenig. Die größte Chance jedoch besteht im aktiven Einbezug des Patienten in den Behandlungsprozess. Dieser Bereich birgt ein großes Potenzial für die Verbesserung der Qualität der medizinischen Versorgung, vor allem vor dem Hintergrund, dass die technischen Entwicklungen auf dem Gebiet der Telematik schon heute so weit fortgeschritten sind, dass die Gesundheitsdaten der Menschen zukünftig in sicherer Form im Internet zur Verfügung stehen werden.
Kliniken
Das Internet ist zwar ein fester Bestandteil der Klinikkommunikation, wenn es um das Web 1.0 geht. Soziale Netzwerke werden aber bisher kaum mehr als halbherzig genutzt. PR- und Marketing-Abteilungen sind noch längst nicht in allen Krankenhäusern Stabsstellen. Dennoch dürfte es auch in der Provinz angekommen sein, dass es sich bei Patienten um Kunden handelt, die zukünftig stärker als bisher umworben werden müssen.
Mit den strukturierten Qualitätsberichten allein gelingt Der § 137 SGB Fünftes Buch verpflichtet die deutschen Kliniken, alle zwei Jahre einen Qualitätsbericht zu veröffentlichen. Jedoch überfordert die Darstellung dieser Daten den normalen Nutzer, weil sie zu sperrig sind. Dies hat regionale wie überregionale oder disziplinäre Klinikführer auf den Plan gerufen. Deren Rankings wie „die zehn besten Gynäkologen Deutschlands“ sind hinsichtlich Objektivität und direktem Gebrauchswert jedoch oftmals fragwürdig.
Damit tragen solche Portale dem „erwachenden Riesen“ Patient Rechnung, der sich das Krankenhaus seiner Wahl ergoogelt. Um potenzielle Kunden nicht gleich aufgrund von nicht nachvollziehbaren Qualitätsdimensionen zu verlieren bzw. erst gar nicht zu gewinnen, treten manche Kliniken die Flucht nach vorn an und preisen auf ihren eigenen Portalen Qualitätsdimensionen wie Behandlungsqualität, Patientenzufriedenheit und Patientensicherheit an. Marketingtechnisch ist dies nicht ungeschickt, selbst vorzugeben, nach welchen Kriterien man betrachtet werden will. Patientensicherheit ist so ein Top-Kriterium und dürfte mit Sicherheit auf größtes Interesse stoßen, denn welcher Patient will schon freiwillig in eine Klinik, in der eine Komplikation vorprogrammiert ist. Solche Portale sind reine Marketinginstrumente und verharren technisch wie soziologisch nach wie vor im Web 1.0.
Krankenversicherungen und Pharmaindustrie
Im Gegensatz zu Kliniken sind Versicherungen und die Pharmazeutische Industrie in Sozialen Netzwerken sehr aktiv. Sie betreiben zum Teil eigene Seiten, bloggen oder lassen bloggen.
Insbesondere für Krankenkassen sind z.B. Plattformen interessant, die Versicherte über so genannte Bonusprogramme animieren, ihre Gewohnheiten zu ändern, wodurch sie sich langfristig Kostenreduzierungen erhofft.
Für Pharmafirmen eignen sich Online-Plattformen allerdings in erster Linie nicht dazu, die Benutzer vom eigenen Produkt zu überzeugen, sondern um mit ihnen in eine Diskussion zu treten: Online Reputationsmanagement nennt man das. Diskussionsforen sind zahlreich. Damit wird Social Media als eine Art von Customer Relationship Marketing zu einer ernstzunehmenden Alternative zum klassischen Pharma-Marketing jenseits von Anzeigen, Broschüren und Pressemitteilungen. Es handelt sich hier nicht einfach um eine neue Art zu werben, es braucht einen Mehrwert, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten.
Interessant ist die Möglichkeit, sich eine Community an Interessierten aufzubauen. In diesem Fall lassen Pharmafirmen bloggen. Die professionelle Bloggerin Sophie Kune z.B. hatte zunächst einen Beauty- und Fashion-Blog für Brustkrebspatientinnen. Es folgte ein zweiter Blog zum gleichen Thema, der allerdings von einem Pharmariesen gesponsort wird. Für diesen bietet dieser Blog offensichtlich eine gute Möglichkeit, sich einen Fürsprecher (so genannte „Advocates“) im Netz zu schaffen, um Communities an Interessierten aufbauen. Social Media werden damit immer stärker zur Basis eines Wirtschaftsmodells, deren Währung Aufmerksamkeit ist.
Und wo bleibt die Qualität?
Kritiker unterstellen immer wieder, medizinische Informationen im Internet seien von zweifelhafter Qualität. Nimmt man hinzu, dass nur 15% der Informationssuchenden im Internet die Quelle und Aktualität ihrer Suchergebnisse kontrollieren, dann ist der „empowered patient“ am Ende gar keiner? Befürworter halten dagegen, dass es gerade die Vernetzung sei, die verhindere, dass schlechte Informationen allzu lange im Netz blieben. Vergleichbar sei das mit auf kollektiver Intelligenz basierenden Systemen wie Wikipedia. Zudem überwachen Nichtregierungsorganisation wie „Health On the Net (HON)“ die Zuverlässigkeit und Qualität von Internetseiten im Gesundheitsbereich, in dem sie ein Qualitätssiegel für vertrauenswürdige Seiten vergeben.
Ausblick
Health 2.0 hat die Gesundheitswirtschaft bereits transformiert und dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Sofern Probleme wie Informationsqualität und Datensicherheit gelöst werden, könnte Health 2.0 zu einer höheren Qualität der medizinischen Versorgung, zu Kostenreduzierung und besseren Verfügbarkeit von Gesundheitsdienstleistungen führen, vor allem aber zu Effizienz. Von welcher Tragweite die Umgestaltung sein wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer prognostizieren. Einen Hinweis dürften jedoch die technischen Entwicklungen geben, die heute schon möglich sind: zukünftig werden nicht mehr nur Menschen mit Dingen kommunizieren, sondern die Dinge selbst, also Objekte und Sensoren untereinander. Das wird im Web squared (Web²) passieren, welches das Web 2.0 ablösen wird. Wie radikal sich der Gesundheitssektor dadurch verändern wird, bleibt mit Spannung abzuwarten.
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